
Eine Frage der Haltung.
Von Stephan Lamprecht.
Rollstuhltennis ist ein toller Sport. Man könnte auch sagen: ein beeindruckender Sport. Das Tolle an diesem Ballspiel ist: man muss es gar nicht beherrschen. Rollstuhltennisspieler, das muss man vielmehr sein. Rollstuhltennis, das ist kein Spiel, das ist eine Haltung. Auf dem Platz — und abseits des Courts. Speziell Letzteres habe ich über die Jahre perfektioniert. Nehmen wir folgende Situation aus einem typischen „Was macht der Behinderte eigentlich, wenn er nicht mit seiner Behinderung beschäftigt ist?“-Gespräch mit einem Fußgänger: „Haben Sie eigentlich Hobbies?“, fragt mein Gegenüber, fest davon überzeugt, dass ein Behinderter genug damit zu tun hat, behindert und damit zwangsläufig »eine arme Sau« zu sein. „Ja“, erwidere ich. „Tischtennis.“ Das stimmt. Nie mehr werde ich der Wahrheit im Laufe des Gesprächs derart nah kommen. Fangen wir klein an, denke ich bei mir und ernte die erwartete Reaktion: „Ah, schön.“
Zwischenstand: Arme Sau mit Tischtennisschläger.
Ein Achtungserfolg. Doch ich gebe mich damit längst nicht mehr zufrieden. „Und Tennis“, schiebe ich scheinbar beiläufig hinterher. Das hat — natürlich — Kalkül, man muss ein gelungenes Match schrittweise aufbauen. Ich spiele sozusagen verbales Prozent-Tennis. „Tennis???“, schallt es mir ungläubig entgegen. Ich hatte gewusst, dass es so kommen würde. Es kommt immer so. „Im Rollstuhl???“ Auch dieses Nachhaken ist Standard. Nun könnte ich entgegnen: „Nein, ich stehe dann selbstverständlich auf. Mein Paradeschlag ist der »Becker-Hecht«, wenn Ihnen das noch etwas sagt. Nur beim Aufstehen hapert es noch ein bisschen!“ Doch das wäre patzig und würde das Match wohl schnell beenden — zu meinen Ungunsten. Derlei Unbeherrschtheiten passen nicht zu einem wahren Könner des »weißen Sports«. Ich sage statt dessen lapidar: „Ja, Rollstuhltennis.“

Das Spiel ist nun offen, der Schlagabtausch kann beginnen.
„Auf dem normalen Feld???“ Typischer Return, ich weiß längst, wie man den souverän kontert: „Ja, der Ball darf zweimal aufticken, das ist der einzige Unterschied“, füge ich sachlich hinzu. „Ist das nicht wahnsinnig anstrengend??“ Das Duell läuft nach Plan. Ich müsste nun sagen: „Ja, es ist die Hölle, und genau deshalb bin ich total schlecht.“ Doch das wäre ein »unforced error« zu einem viel zu frühen Zeitpunkt. Manchmal reicht es, den Ball einfach im Spiel zu halten. Ich sage nur kühl: „Ja, ist es mitunter.“ Ich kann die Gedanken meines Gegenübers lesen: Eine arme Sau, die kämpft. Respekt!
Der erste Punkt gehört mir. 15:0.
„Wo machen Sie das denn?“ Kritischer Moment. „In Waltrop“, nuschele ich mehr als ich spreche. Waltrop ist okay, ist aber eben nicht Paris, Melbourne oder London. Noch nicht einmal wie Rothenbaum oder Rochusclub. Waltrop ist in diesem frühen Gesprächsstadium ungefähr so zielführend wie das Geständnis, schon einmal auf einem PUR-Konzert gewesen zu sein. „Beim ehemaligen Bundestrainer“, schiebe ich deshalb eilig hinterher. „Beim Bundes…?!“ Gerettet! „Beim Bundestrainer“, bekräftige ich. Hinweise auf das totale Nischendasein dieser Sportart und auch das »ehemalige« schenke ich mir. Was soll’s — wo es doch sogar schon zwei Päpste gab!

Hoch konzentriert auf 30:0.
„Dann müssen Sie ja ziemlich gut sein.“ Aus den Fragen werden allmählich Tatsachenbehauptungen. Klare Sache: es läuft! Zeit, etwas mehr zu riskieren. „Ich habe sogar schon Turniere gespielt!“, versuche ich einen verbalen Angriffsball. Eigentlich war es nur ein Turnier. Erstrunden-Niederlage. 0:6, 0:6. Die berühmte »Brille«. Plastikpokal — für die Teilnahme. All das verschweige ich. Lüge ich deshalb? Mitnichten! Ich als Crack habe das Spiel einfach nur korrekt analysiert. Längst weiß ich, dass ich damals im Grunde einen einzigen Fehler gemacht habe: Ich habe versucht, Turniertennis zu spielen. Lediglich ein Fehler in einem harten Zweisatz-Match, das ist verzeihlich. „Sogar in Wimbledon wird Rollstuhltennis gespielt!“, führe ich den Angriff schnell mit einem Ablenkungsmanöver fort. „Ich war selbst schon da!“ Zugegeben, eine etwas waghalsige Verknüpfung. Denn eigentlich war ich 2012 nur als Zuschauer anwesend — auf den Außenplätzen. Centre-Court war zu teuer. Die meisten Spieler kannte ich nicht, Erdbeeren gab’s auch keine, nur (überteuerten) Kuchen. Egal, Nebensächlichkeiten. „Wimbledon!“, gerät mein Gegenüber längst erwartungsgemäß ins Schwärmen. Dieses Wort hat auch 28 Jahre nach Boris B. nichts an Magie eingebüßt. Apropos Bobbele. „Na, dann werden Sie ja demnächst sicher der neue Boris Becker!“ Der Gesprächspartner ist längst vom Saulus zum Paulus, vom Skeptiker zum bedingungslosen Fan avanciert.
40:0! Drei Matchbälle.
Ich konzentriere mich auf den Ballwurf und haue einfach drauf. „Mein Trainer vergleicht mich bereits mit Ivan Lendl“, protze ich jetzt hemmungslos. „Acht Grand-Slam-Siege, lange Zeit Weltranglistenerster, Sie wissen schon“, wechsele ich gekonnt zwischen fachmännischem Gehabe und anbiedernder Verbrüderung. Man muss als großer Champion auch gönnen können, wenn man sich auf der Siegesstraße befindet. Natürlich hat mein Gegenüber meist keinen blassen Schimmer, Lendl ist längst vergessen. Vergessen wollen wir deshalb in dieser Situation auch die Begründung meines Coachs. „Du spielst wie Ivan Lendl. Kein Talent, aber hart am arbeiten!“ Talent? Wer bitte braucht Talent! Wer braucht Vor- und Rückhand? Wer braucht Fahrtechnik, gar Turniersiege? Rollstuhltennis ist eine Frage der Haltung! Ein faszinierender Sport. Meinen Gesprächspartner jedenfalls habe ich nun endgültig beeindruckt. In seinen Augen werde ich fortan ein »Weltklassespieler mit Grand-Slam-Ambitionen« sein, der Wimbledon sein Wohnzimmer nennen darf.
Als »arme Sau« kann ich gut damit leben…